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Isabelle Bohrer gibt Auskunft über die regionale Sozialhilfe

von Kathrin Aebi
am

«Die Sozialhilfe ist das letzte Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit. Sie bezweckt die Sicherstellung des Existenzminimums und soll die wirtschaftliche und persönliche Unabhängigkeit bedürftiger Personen fördern. Die Sozialhilfe wird so weit gewährt, als die bedürftige Person nicht von ihrer Familie unterhalten werden oder andere gesetzliche Leistungen, auf die sie Anspruch hat, geltend machen kann. Sie wird in jedem einzelnen Fall nach der besonderen Situation der jeweiligen Person bemessen.» So beschreibt der Kanton Freiburg die Sozialhilfe.
 
Von der Sozialhilfe abhängig werden kann jede Bürgerin und jeder Bürger jederzeit. Sei es durch Schicksalsschläge, wie den Verlust des Arbeitsplatzes gerade in der aktuellen Corona-Krise, sei es durch eine Erkrankung, die die Fortführung der Arbeit nicht erlaubt, oder Veränderungen im privaten Umfeld, wie eine Scheidung. Dennoch lastet auf die Sozialhilfeempfänger ein gesellschaftliches Stigma, das nicht wenige Bedürftige davon abhält, die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch zu nehmen. Bei Menschen mit Migrationshintergrund und unsicherer Bleibeaussichten besteht die Befürchtung, dass sich bei Inanspruchnahme ihre Chancen verschlechtern. Über diese Menschen, die Anrecht auf Unterstützungsleistungen haben, sie aber nicht in Anspruch nehmen, gibt es keine Zahlen.
 
Gemäss Bundesamt für Statistik waren 7'301 Bürger*innen im Kanton Freiburg 2019 Sozialhilfebezüger, davon 2'156 (30%) im Altersbereich 0-17 Jahre und 1'284 (18%) im Altersbereich 46-55 Jahre. Die Geschlechterverteilung war fast ausgeglichen. Den höchsten Anteil davon hatten Ledige. In den letzten sieben Jahren ist der Anteil der längerfristig in Armut Lebenden um 18% angestiegen.
 
In den meisten Fällen sind Kinder mitbetroffen, wenn die Eltern oder ein alleinerziehender Elternteil in die Bedürftigkeit geraten, wodurch sich für sie die Zukunftsaussichten verschlechtern. Jugendliche würden schneller nach dem Schulabschluss arbeiten gehen, um für die Eltern und die Familie zu sorgen.

Zur 'Let’s talk'-Gesprächsrunde am 25. Februar 2021

Eingeladen war die Leiterin Sozialdienst Murten, Isabelle Bohrer, die den Interessierten Rede und Antwort stand. Durch den Talk geführt hat Pascal Känzig, Generalrat in der Fraktion SP/Grüne, unterstützt von Gemeinderat Alexander Schroeter.
 
Zur ersten Frage, wie sich «Corona» auf ihre Arbeit ausgewirkt habe, erklärte Isabelle Bohrer, dass sie bis jetzt nur einen leichten Anstieg an Sozialhilfebezügern zu verzeichnen haben. Sie gehe jedoch davon aus, dass sich diese Situation jederzeit ändern könne, wenn die Kurzarbeit ausläuft und Stellen gestrichen würden oder Firmen in die Insolvenz gingen.
 
Die Frage, inwieweit sie Auswirkungen von «Corona» bei ihren Klienten bemerke, sagte sie, die psychische Belastung stark zu spüren, da ihnen der Kontakt zu anderen Menschen genauso fehle, wie uns allen. Da sie aus diesen Kontakten Kraft mitnähmen für ihren Alltag, erlebe sie immer wieder die pure Verzweiflung und Zukunftsängste. Sie sehe ihre Aufgabe vor allem darin, den Menschen Hoffnung und Zuversicht zu geben und eine Perspektive aufzuzeigen, damit es ihnen besser gehe, wenn sie ihr Büro verliessen.
 
Zur Situation der Alleinerziehenden erklärte sie, dass es für die Betreffenden sehr schwierig sei, die Erwerbstätigkeit und die Kindeserziehung unter einen Hut zu bekommen. Hilfreich sei in dem Zusammenhang die Überarbeitung des Gesetzes über Inkassohilfe und Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen (IHBUBG) (Ref. 1 & 2), deren wichtigste Neuerung die Erhöhung der Bevorschussung zugunsten der Kinder sei. Isabelle Bohrer erklärte, dass man Kinderarmut anders entgegenwirken könne als mit Sozialhilfe. Die Kinderzulagen wie auch die Alimentenbevorschussungen seien hierzulande aber leider tiefer als im europäischen Vergleich.
 
Befragt, ob sie die ihr geschilderten Probleme nach der Arbeit weiter belasteten, erklärte Isabelle Bohrer, dass sie zum Glück abschalten könne. Als letztens eine Familie bei ihr gewesen sei, der der Wohnungsverlust in Aussicht gestellt worden war, habe sie das schon sehr beschäftigt. Zum Glück hat es ein gutes Ende gefunden.
 
Gebeten zu schildern, wie die Gesellschaft diese in Armut lebenden Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen könne, erklärte Isabelle Bohrer, dass Akzeptanz und Verständnis wesentliche Voraussetzungen seien. Wenn ein Schulkind nicht an einem Ausflug teilnehme oder an der Nachhilfe, so sei der Grund nicht, dass die Eltern es ihrem Kind nicht gönnen, sondern weil ihnen das Geld fehle. Man solle vorurteilsfrei reagieren, sich erkundigen und gegebenenfalls Hilfe anbieten, anstatt zu verurteilen.
 
Politiker könnten Gratis-Angebote gezielt ausbauen, neben Gratis-Eintrittskarten für Kino, Theater oder Schwimmbad wäre das Sponsoring von Mitgliedsbeiträgen für die vielfältigen Vereine denkbar. Wichtig sei es, die Jugendlichen von der Strasse zu holen, ihnen sinnvolle Freizeitmöglichkeiten anzubieten, sie zu fördern, aber auch zu fordern.
 
Gerade aktuell beim Fernunterricht würden die Unterschiede deutlich werden. Bedürftigen Schüler*innen sollten durch die Schule Notebooks ausgegeben werden, damit sie die Hausaufgaben nicht mit dem Handy machen müssten.
 
Neben der Förderung von Freizeitaktivitäten sei der nahtlose Übergang von der Schule in die Lehre sicherzustellen, was bei schwachen schulischen Leistungen durch gezielte Unterstützungsmöglichkeiten kompensiert werden könne.
 
Gleiches gelte für den Eintritt in den Arbeitsmarkt, der sich schwierig gestalten werde, wenn die Arbeitgeber den schwächeren Schüler*innen weder eine Schnupperlehre noch eine Anstellung anbieten könnten. Ganze Jahrgänge könnten aufgrund der Corona-Situation den Anschluss verlieren. Das gelte es zu verhindern.
 
Ihr Appell an die Sozialpolitik sei, die historisch gewachsenen Sicherungssysteme auf den Prüfstand zu stellen und zu modernisieren und an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Das System sei sehr kompliziert, die Geltendmachung von Ansprüchen, wie den Kinderzulagen, seien «komplexe Geschichten». Die Sozialhilfe sei nicht mehr nur eine Überbrückungshilfe, weshalb man das System vereinfachen müsse. Auch der Druck auf die Bedürftigen, die erhaltene Sozialhilfe zurückzahlen zu müssen, halte manche Bedürftige von der Inanspruchnahme ab (Ref. 3).
 
Auf die betroffenen Kinder angesprochen erklärte Isabelle Bohrer, dass es eine Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit gebe. Dennoch hätte sie gern mehr Geld zum Verteilen und verwies auf den Lyons Club in Murten, der hier ab und an helfe. Für das Thema der von Armut betroffenen Kinder wünschte sie sich einen stärkeren politischen Willen im Kanton. Es gebe dafür gute Beispiele in anderen Kantonen, wie es besser laufen könnte.
 
Bleibt zum Schluss die Frage, ob die Sozialhilfe eigentlich nicht mehr ist als «das letzte Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit»? An die Mitarbeiter*innen des Sozialdienstes werden schlussendlich sämtliche Probleme, die Betroffene zu bewältigen haben, herangetragen, für die sie gemeinsam mit den Betroffenen nach Lösungen suchen müssen.
 
«Mit der Revision des Sozialhilfegesetzes, deren Entwurf die Direktion für Gesundheit und Soziales (GSD) in die Vernehmlassung geschickt hat, soll die Sozialhilfe an die Herausforderungen angepasst werden, die sich aus der Entwicklung unserer Gesellschaft ergeben, und die grundlegende Rolle dieses letzten Netzes unseres sozialen Schutzes festigen. Heute muss die Sozialhilfe Probleme struktureller Art und Sozialrisiken begegnen, die sich weiterentwickelt haben, wie Langzeitarbeitslosigkeit, hohe Scheidungsraten, dem Bildungsdefizit der Bedürftigen oder der Migration (Ref. 4).»

Informationen zu allen weiteren 'LET'S TALK'-Gesprächsrunden finden Sie in unserer Agenda: LET'S TALK - Murten sozial, nachhaltig, lebenswert.

Referenzen:

  1. BOTSCHAFT 2020 – DSAS-69 des Staatsrates an den Grossen Rat zum Gesetzentwurf über Inkassohilfe und Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen
  2. Vorentwurf des Gesetzes über Inkassohilfe und Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen (IHBUBG)
  3. Kantonales Sozialhilfegesetz (SHG)
  4. Staat Freiburg, Direktion für Gesundheit und Soziales, Vorentwurf des Sozialhilfegesetzes (SHG) vom 16.12.2020