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Vermischtes /Kommentar
Brigitte Kaufmann

Gedanken zum neuen Jahr

Liebe Leser*innen von unsereRegion
 
Zum Jahresanfang möchte ich Sie in das Schulheft meines Vaters schauen lassen. Ich fand dort Aufsätze und Weisheiten, die mich berührten. Sie sind herzlich eingeladen, den Sechstklässler durch das Jahr zu begleiten. Es ist das Jahr 1940. Die Zeiten sind hart. Auch in der Schweiz. Alle Familienmitglieder müssen dazu beitragen, dass der Alltag gelingt.

«Der Frühling ist ins Land gezogen mit all seiner Herrlichkeit. Alles was da grünt und blüht, hat der Schöpfer im Himmel gemacht. Die unzähligen Blümlein, die schwellenden Knospen der Bäume und das kräftige Gras machen mir so viel Freude. Die Sonne scheint hell und klar. Die Kühe und Rinder weiden auf der Wiese, ihre Glöcklein klingen hell und schön. Die Vögel singen ihre schönsten Lieder. Muntere Ziegen hüpfen herum und junge Füllen machen hohe Sprünge. Der Kirschbaum auf dem Spielplatz ist ein grossmächtiger Blumenstrauss. Der liebe Gott hat doch die Welt unendlich schön erschaffen.»
 
«Die letzte Woche war schönes Heuwetter. Die Sonne strahlte klar vom Himmel herunter. Morgens um fünf Uhr schlüpfte ich aus dem Bett und ging in den Stall zum Melken. Um halb sieben nahm ich das Morgenessen ein. Nachher holte ich eine Sense und mähte das Gras, bevor ich in die Schule ging.»
 
«In den Ferien konnte ich nicht faulenzen. Der Vater hätte dem schon abgeholfen. Am ersten Tag nach der Stallarbeit musste Mist verzettelt werden. Die ganze Familie arbeitete auf der Wiese. In einer Woche war der Mist ausgelegt. In der zweiten Woche wurden Reiswellen gemacht. Das war mir eine liebe Arbeit. Die Beile wurden tüchtig aufgezogen. Während des Hauens wurden Spässe gemacht und geplaudert. Am Abend hatten wir 43 Reiswellen beisammen.»
 
«Die Arbeit sehe ich als Pflicht. Man kann die Pflicht ganz oder halb tun. Das heisst, gut oder schlecht. Auf beide Arten hat man die Pflicht erfüllt. Aber wenn man alles gut geleistet hat, so ist man froh und glücklich. Hat man die Pflicht halb erfüllt, so ist man missmutig und mürrisch. Die treu erfüllte Pflicht ist für mich etwas Grosses. Es wäre leichter, etwas Ausserordentliches zu tun, wie zum Beispiel einem Menschen das Leben zu retten. Dann würde man diese Heldentat in allen Zeitungen schreiben. Man würde mich hochachten. Viel schwerer ist es, etwas Alltägliches immer treu zu tun. Vor den Menschen wird man dafür nicht so geachtet, aber dafür vom lieben Gott. Dazu braucht es einen eisernen Willen. Wenn ich den habe, wird etwas Rechtes aus mir werden. Die treu erfüllte Pflicht, besonders, wenn es eine alltägliche ist, schafft etwas Grosses.»
 
«Ich stehe im Dienst der Familie. Der Vater ist der General. Er befiehlt mir und wenn ich nicht gehorche, gibt es eine Strafe. Es ist also wie im Militär. Denn dort müssen sie auch gehorchen, sonst kommen sie ins "Loch". Daheim haben wir auch ein Hauptverlesen. Der Vater sagt mir am Tag zuvor, was ich am anderen Tag arbeiten muss.»
 
«Das Schweizerland ist vom Krieg umgeben. Darum ist die Zufuhr von Lebensmitteln unmöglich oder sehr spärlich. Nach und nach würde in der Schweiz eine Hungersnot entstehen. Deshalb schreibt der Bund jedem Bauern vor, Kartoffeln anzupflanzen, damit niemand Hunger leidet. Also meint es der Bund gut mit uns. Es gibt aber dennoch Leute, die über den Bund schimpfen. Niemand kann es allen recht machen. Wenn ich einmal gross bin, will ich eine geschlossene Stellung für den Bund einnehmen.»
 
«Juhee, heute erlebten wir einen lustigen Schultag. Die Lehrerin rief vier Kinder heraus und ins Schulzimmer kamen sie wieder mit vier Schüsseln Zwetschgen. Dreimal durften wir eine Handvoll süsser Zwetschgen zum Verschmausen holen. Da ging es an ein Arbeiten, aber nicht mit den Händen, sondern mit dem Mund. Nachher wollten wir wieder mit Arbeiten beginnen. Unsere Lehrerin sagte zum zweiten Mal: «Zusammenpacken». Es wurde uns bekannt gemacht, dass in Fürigen der Bernische Wirte Verband tage. Dieser hatte eine famose Idee. Er schenkte uns eine grosse Kiste voll Berner Mutzen. Zuerst wussten wir nicht, was das ist, bis sie uns der Kaplan austeilte. Oh, wie das süss duftete. Zum Dank brachten wir dem Verband in Fürigen ein Ständchen dar. Daraufhin wurden wir auf der Terrasse des Hotels wie noble Gäste bedient. Es wurden uns dreizehn Flaschen Limonade und 27 Päckchen Konfekt serviert. Wir gingen frohen Humors heim. Dieser Tag wird ein Sonnentag in meinen Jugenderinnerungen.»
 

Liebe Leser*innen, mein Vater ist am 24. November im Alter von 94 Jahren friedlich für immer eingeschlafen. Seine Worte haben auch noch im Jahre 2022 ihre Gültigkeit. Zum neuen Jahr 2022 wünsche ich Ihnen die Liebe und den Respekt zur Natur, die Zufriedenheit in der alltäglichen Arbeit und die Gewissheit, dass genau Ihre Arbeit etwas Grosses ist, die Dankbarkeit und Freude an kleinen Begebenheiten, und - mit einem kleinen Schmunzeln - das Vertrauen in unsere Demokratie. Wir sollten Sorge tragen zueinander.
 
Herzliche Grüsse und ein glückliches 2022!