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Joel Senn: Kapitän aus Leidenschaft

Von ruhigen Gewässern, tobenden Stürmen und herzlicher Gastfreundschaft – Einblick in den Alltag eines Kapitäns

von Esther Zangger
am
Kapitän Joel Senn beim Begrüssen seiner Gäste

Von ruhigen Gewässern, tobenden Stürmen und herzlicher Gastfreundschaft – Einblick in den Alltag eines Kapitäns

Ein 40 Meter langes und 8,20 Meter breites Frachtschiff wurde nach einem umfassenden Facelifting im Herbst 2021 in ein einzigartiges Hotelschiff umgewandelt. Seitdem ist es als ‘Boutique Boatel Attila' unterwegs und bietet mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 8 Kilometern pro Stunde eine entspannte Kreuzfahrt durch die malerische Drei-Seen-Region.       

Seit März 2024 steuert Kapitän Joel Senn das einzige Kreuzfahrtschiff der Schweiz. Im Interview nimmt er uns mit auf eine Reise durch seinen Alltag und berichtet von den Höhepunkten und Herausforderungen, die sein Job mit sich bringt – einschliesslich einem dramatischen Sturm, der ihn an die Grenzen seiner Fähigkeiten brachte.

Herr Senn, wie fühlt es sich an, Kapitän eines so speziellen Schiffes zu sein?

Es ist für mich eine spannende und anspruchsvolle Aufgabe, das Schiff bestmöglich zu steuern und unseren Gästen eine angenehme Fahrt zu bieten.

Haben Sie eine persönliche Verbindung zur Region oder zum Schiff selbst?

Ich bin im solothurnischen Bucheggberg aufgewachsen, doch als gelernter Metallbauer und Schmid habe ich bei meiner früheren Arbeitsstelle mitgeholfen, das Boutique Boatel Attila zu bauen. Somit war ich von Anfang an dabei.

Wie kam es dazu, dass Sie Kapitän wurden?

Mit etwa 21 Jahren arbeitete ich als Metallbauer in Môtier auf einer Baustelle. Damals besuchte ich regelmässig meine Mutter, die bei der Drei-Seen-Schifffahrtsgesellschaft im Büro arbeitete. Eines Tages fragte mich dort René Goetschi, der heutige Chef-Kapitän der Attila, ob ich nicht Kapitän werden wolle. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Da ich gerade nach einer neuen Herausforderung suchte, entschied ich mich für die Kapitänsausbildung und startete danach auf der ‘Romandie 2’ und der ‘Romandie 1’ als Kapitän.

Später steuerte ich Güterschiffe bei einer Wasserbaufirma, doch die Sehnsucht nach dem Leben als Kapitän auf einem Fahrgastschiff blieb. Heute kann ich sagen: Kapitän auf einem Fahrgastschiff ist mein absoluter Traumjob, ich könnte mir nichts anderes mehr vorstellen.

Was ist der Unterschied zwischen der Arbeit auf Güterschiffen und der auf einem schwimmenden Hotel?

Das Hotel-Schiff Attila ist von der Bedienung her immer noch ein Güterschiff, also kaum ein Unterschied. Was mir fehlte, war der direkte Kontakt zu den Gästen, den ich hier wiederfand. Der Wechsel vom Güterschiff zurück auf ein Fahrgastschiff war wie eine Heimkehr für mich.

Was fasziniert Sie am Hotel-Schiff Attila besonders?

Für mich ist es das grösste Geschenk, zu sehen, wie unsere Gäste entspannt und glücklich von der Attila gehen. Die Idee eines schwimmenden Hotels fasziniert mich besonders, denn die Drei-Seen-Region hat so viel zu bieten: vom Murtensee mit seinen Wasserpflanzen bis zum klaren Neuenburgersee und der charmanten St. Petersinsel – jede Fahrt ist ein neues Abenteuer.

Welche Route fahren Sie persönlich am liebsten?

Meine Lieblingsstrecke ist der Broyekanal. Die enge Passage ist eine wunderbare Gelegenheit, die Natur hautnah zu erleben. Vor allem beim Eingang zum Neuenburgersee ranken die Bäume nahezu ins Wasser und in der frühen Morgenruhe kann man das Zwitschern der Vögel besonders gut hören. Es ist ein friedlicher Moment, der einem zeigt, wie schön und ruhig der Wasserweg sein kann.

Welchen Herausforderungen begegneten Sie bisher auf dem Boutique Boatel Attila?

Herausfordernde Situationen gibt es immer wieder, insbesondere Wetter und Wind stellen schwierige Faktoren dar. So kann auch mal eine scheinbar einfache Anfahrt im wahrsten Sinne des Wortes ‘verblasen’ werden.

Kürzlich wehte zum Beispiel ein Südwestwind mit 50 Kilometern pro Stunde, das allein ist schon sehr anspruchsvoll. Dazu kommt, dass wir in Muntelier nur backbord und rückwärts anlegen können. Bei der Anfahrt war das Wasser voller Windsurfer, da denkt man schon mal ‘geht einfach mal zur Seite’, weil das mit einem 230-Tonnen-Schiff gefährlich werden kann. Ein Schiff hat ja keine Bremsen und ist nicht besonders wendig.

Ein weiteres Beispiel: Vor einigen Tagen mussten wir drei Stunden lang gegen Wellen fahren - wir fuhren die ganze Zeit gegen eine ‘weisse Wand’. Das war schon auch am Limit. In solchen Situationen ruckelt das ganze Schiff unentwegt und man ist froh, wenn es wieder etwas ruhiger wird. Aber das kann man mit diesem Schiff und mit Erfahrung gut handlen. Beim Schifffahren macht es die Erfahrung aus, je mehr man fährt, desto sicherer wird man und desto mehr spürt man sein Schiff.

Hatten Sie auch schon mal Angst auf dem Wasser?

Ja, als ich vor drei Jahren noch bei der Wasserbaufirma gearbeitet habe. Damals geriet ich mit einem Güterschiff in einen bösen Sturm und konnte ausser abwarten und ‘passieren lassen’ nichts mehr machen.

Was war passiert?

Beim Schwemmholzsammeln auf dem Hagneckkanal zog ein Unwetter auf. Westwind, Bise und der Joran (Anm.: thermischer, schwer vorhersehbarer Fallwind in der Westschweiz) trafen gleichzeitig auf uns, Wellen kamen von allen Seiten, der Wind drehte sich tornadoartig über der Sankt Petersinsel und es hagelte - das Radar zeigte nur noch ein grünes Bild. Mein Matrose und ich zogen unsere Rettungswesten an; orientierungslos hofften wir, nicht zu kollidieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in Wirklichkeit etwa fünf Minuten, fanden wir uns unerwartet vor dem Hagneckkanal wieder.

Diese Erfahrung lehrte mich, was ich mir und meinem Schiff zutrauen kann. Seither hatte ich nie mehr solche Angst auf dem Wasser. Naturkräfte wie Wind und Wasser sind unglaublich. Trotz der Schönheit eines spiegelglatten Sees bevorzuge ich aber weiterhin einen etwas raueren See. Das lehrt Demut gegenüber den Kräften der Natur.

Können Sie uns einen typischen Arbeitstag auf dem Boutique Boatel Attila beschreiben?

Unser Tag beginnt normalerweise um 7 Uhr mit der Vorbereitung des Frühstücks für unsere Gäste. Um 8 Uhr heisst es dann Leinen los und wir stechen in See. Nachdem die Gäste gegessen haben, frühstückt dann beim ersten Stopp auch die Crew. Danach folgen verschiedene Aktivitäten für die Gäste. Nach einem Tag auf See legen wir gegen 17:30 Uhr in einem Hafen an, nach diversen abschliessenden Arbeiten machen dann auch wir Feierabend und lassen den Tag auf der Attila ausklingen.

Was machen Sie, während die Gäste auf Landausflügen sind?

Hier packt jeder mit an. Nach dem Anlegen räumen wir auf und saugen Staub, damit das Schiff bei der Rückkehr der Gäste wieder ‘wie neu’ aussieht. Nach einer langen, monotonen Fahrt, wie etwa von Estavayer, ist Abwechslung willkommen und ich bin froh, wenn ich mal etwas anderes machen kann.

Was mögen Sie an Ihrer Arbeit am liebsten? Was weniger?

Am meisten schätze ich den direkten Kontakt mit unseren Gästen. Viele von ihnen zeigen grosses Interesse an unserer Arbeit und der Region, was es für mich besonders befriedigend macht, Auskunft zu geben. Ich übe meine Arbeit mit viel Herzblut aus, es gibt es für mich keine weniger schönen Aspekte.

Gibt es Technologien, die Sie gerne auf dem Schiff einführen würden?

Ein Autopilot wäre eine gute Sache (lacht). Mit dem Boutique Boatel Attila ist nur schon geradeaus fahren schwierig, weil es unten flach ist und keinen Kiel hat, der es führt. Deshalb erfordert das Schiff nonstop Aufmerksamkeit, damit es keine Kurve fährt. Ein Autopilot würde dabei unterstützen, die Route präzise einzuhalten.

Was machen Sie im Winter?

Im Winter warten wir das Schiff und führen Unterhaltsarbeiten durch. Ich habe dann mehr Zeit für Büroarbeit und meine Arbeit als Cruise Manager. Dabei organisiere und koordiniere ich die Fahrten, dazu gehört auch der Gästekontakt sowie das Planen der nächsten Saison.

Das Boutique Boatel Attila kann auch im Winter gebucht werden, meist geschieht das für Weihnachtsevents. Die Kapazität ist jedoch begrenzt, da das Schiff mit 9 Doppelzimmern nur für 18 Gäste ausgelegt ist. Bei mehr Gästen arbeiten wir eng mit Hotels an Land zusammen.

Kapitän Joel Senn im Salon

Was steht als nächstes an?

Bald haben wir eine Gruppe von 12 Personen, die ihre Klausur auf dem Boutique Boatel Attila schreibt. Wir starten ab Hotel Bad Murtensee und fahren nach Neuenburg. Während der Fahrt schreiben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Klausur, essen dann in Neuenburg zu Abend, anschliessend fahren wir zurück nach Muntelier. Da alle ein Einzelzimmer gebucht und wir nur neun Zimmer haben, schlafen drei Personen im Hotel Bad Murtensee. Am nächsten Tag gibt es Frühstück auf dem Schiff und dann geht es erneut auf den See für die Klausur. Auf dem Boutique Boatel Attila ist fast alles möglich.

Und bei Ihnen?

Ich war jetzt sechs Tage auf dem Schiff und davon nur etwa zwei Stunden an Land. Jetzt lasse ich mich von meiner Verlobten bekochen und warte, bis das Schwanken unter meinen Füssen wieder aufhört (lacht).

Herzlichen Dank für das sympathische Interview und weiterhin viel Freude auf der Attila!

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