Ein Leben zwischen Einschränkung und enormer Bereicherung: Der Alltag mit einem Kind mit Trisomie 21
Heute ist der internationale Welt Down-Syndrom Tag. Zu diesem Anlass haben wir mit der Familie Känzig-Stadler aus Salvenach gesprochen. Ihre Tochter Lena (9) hat das Down-Syndrom.
Heute ist der internationale Welt Down-Syndrom Tag. Zu diesem Anlass haben wir mit der Familie Känzig-Stadler aus Salvenach gesprochen. Ihre Tochter Lena (9) hat das Down-Syndrom.
Der Welt Down-Syndrom Tag findet seit 2006 jedes Jahr am 21. März statt. Für diesen speziellen Tag werden weltweit Veranstaltungen und Initiativen organisiert, mit dem Ziel das öffentliche Bewusstsein für die Trisomie 21 respektive das Down-Syndrom zu steigern. Das Datum (21.3.) nimmt Bezug auf das 21. Chromosom, das bei diesen Menschen dreifach vorhanden ist.
Lena als «Postergirl»
In der Schweiz wird unter anderem eine Posteraktion zum Welt Down Syndrom Tag durchgeführt. Der Slogan in diesem Jahr lautet «Wir entscheiden mit!» und weist darauf hin, dass Menschen mit Down-Syndrom - wie alle anderen auch – weitgehend selbstbestimmt leben und ihre Zukunft mitgestalten wollen. Sie müssen deshalb in Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, einbezogen werden. Lena aus Salvenach hat bei der Posteraktion auch mitgemacht und ihr eigenes Poster erhalten. Es ist neben vielen anderen auf der Webseite von Tri21.ch einsehbar.
Ein Leben mit und für Trisomie 21
Wie sieht konkret der Alltag im Leben einer jungen Familie mit einem Kind mit Trisomie 21 aus? Welche Abstriche müssen gemacht werden und welche Bereicherung bietet das Leben mit einem kleinen Menschen mit Trisomie 21? Darüber haben wir mit Nadine und Simon Känzig-Stadler aus Salvenach gesprochen. Nadine ist in Muntelier aufgewachsen und Simon in Mühleberg. Seit 2015 wohnt die Familie mit ihren beiden Kinder Lena, 9 Jahre mit Trisomie 21, und Luca, 5 Jahre, in Salvenach.
Lena besuchte während zwei Jahren in Salvenach die Spielgruppe Luftibus, welche von zwei liebevollen Spielgruppenleiterinnen mit viel Herz geleitet wird. Nun geht sie seit dem Kindergarten in Freiburg im Les Buissonnets in eine Sonderschule. Sie wird täglich von einem Bus zu Hause abgeholt und wieder nach Hause gebracht. Lena liebt die Busfahrt mit der wunderbaren Chauffeuse Maria und hat während der Fahrt viel Spass mit den anderen Kindern.
Vielfältiges Betreuungsangebot im «Les Buissonnets»
«Lena geht sehr gerne zur Schule. Wir haben ein grosses Glück mit dieser heilpädagogischen Schule im Kanton Freiburg. Dies ist leider nicht in jedem Kanton der Fall», erklärt Nadine. Das Les Buissonnets bietet zusätzlich zur Tagesschule, die Möglichkeit einer internen Wohngruppe Domino oder Mikado. «Auch diese ‘Ferien’ liebt Lena sehr und wir nutzen die Möglichkeit, dass Lena an ca. fünf bis sechs Wochenenden im Jahr von Freitagabend bis Sonntagabend in einer Art Wohngemeinschaft zusammen mit fünf bis acht Kindern und drei bis vier Betreuer:innen viele tolle Sachen erleben kann.» Während diesen Wochenenden gehen sie zusammen einkaufen, kochen und spielen gemeinsam oder machen kleinere und grössere Ausflüge.
Zusätzlich zu den Wochenenden gibt es auch während den Schulferien die Möglichkeit die Kinder in ein Lager von jeweils fünf Tagen zu schicken. Lena sei auch hier sehr gerne dabei und wir nutzen diese Lager ebenfalls rund viermal im Jahr, so Nadine.
Freundschaften fürs Leben
Genau in dieser wunderbaren Schule hat sich zwischen Lena und Yassmine, einem anderen Mädchen mit Trisomie 21 eine so schöne Freundschaft entwickelt. Die beiden gingen drei Jahre zusammen in dieselbe Klasse. Yassmine wechselte aufgrund ihres Alters - sie ist 10 Jahre alt - bereits im Sommer 2022 in die Mittelstufe und somit wurden die beiden getrennt. Dies hatte jedoch keinen Einfluss auf ihre Freundschaft, welche sie auf der Busfahrt, in den Pausen, auf der Wohngruppe und auch bei privaten Treffen, welche die beiden Mütter organisieren, weiterhin pflegen und ausleben dürfen.
Nadine Känzig-Stadler gewährt uns einige Einblicke in das tägliche Leben ihrer kleinen Familie.
Nadine, wann hat Lena euch das letzte Mal zum Lachen gebracht?
Wenn sie uns mit einem verschmitzten Lächeln ganz liebevoll «Papilein und Mamilein» nennt. Es ist zu erwähnen, dass Lena die Lautsprache mit ihren neun Jahren noch immer nicht beherrscht. Sie hat schon früh begonnen, sich mit der Kommunikation über die «unterstützte Kommunikation nach PORTA» auszudrücken. Sie nutzt diese Art der Kommunikation immer noch bei Wörtern, welche sie nicht aussprechen kann. Wir freuen uns natürlich über jedes noch so kleine Wort, welches sie mittels Lautsprache mitteilen kann.
Wie sieht ein typischer Tag in eurem Leben aus?
Lena braucht in vielen alltäglichen Dingen Unterstützung. Das fängt beim Kleider anziehen – etwa Reisverschlüsse - an, geht weiter übers Zerkleinern von Mahlzeiten bis hin zur Körperpflege, wie gründliches Zähneputzen, Haare waschen und föhnen. Weiter ist Lena komplett inkontinent und trägt daher noch rund um die Uhr, Windeln.
Für die Stärkung der Rumpfmuskulatur aufgrund ihrer Muskelhypotonie (schwache Körperspannung), besuchen wir ausserhalb der Schule im zwei Wochen Rhythmus die Hippotherapie (Therapie mit dem Pferd) in Schönenbühl/Kriechenwil bei Laupen.
Lena hat keinen Sinn für das Einschätzen von Gefahren. Das bedeutet, dass sie zum Beispiel selbständig keine Strasse überqueren kann und man sie auch vor allem im Freien nicht aus den Augen verlieren darf. Sie kann plötzlich davonlaufen, ohne sich über das Ausmass ihres Handels bewusst zu sein. Des Weiteren würde sie wahrscheinlich auch den Heimweg nicht mehr finden, da ihr Orientierungssinn nicht besonders gross ist.
Wie macht sie sich in der Schule?
Im Les Buissonnets besucht Lena die vollen Schulstunden, das heisst Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag den ganzen Tag sowie am Mittwochvormittag. Sie hat die üblichen Fächer wie alle Schulen haben: Schreiben, Rechnen, Werken, Turnen, Religion. Zusätzlich hat sie einmal pro Woche im schuleigenen Hallenbad, Schwimmunterricht und für die spezifische Förderung aufgrund des Downsyndroms noch Physiotherapie (Förderung der Grobmotorik), Psychomotorik (Förderung der Fein- und Grobmotorik) und Logopädie.
Was sind ihre Lieblingsbeschäftigungen?
In der Schule liebt sie das gemeinsame Singen und Musizieren im Chor, welcher wöchentlich zusammen mit diversen Klassen unter musikalischer Begleitung der Lehrer:innen stattfindet. Sie ist sehr sozial und empathisch. Sie mag es, sich um andere Schüler:innen zu kümmern und ihnen zu helfen.
Lena malt sehr gerne vor allem mit Wasserfarben, spielt gerne mit den Puppen, der Spielküche und dem Doktorspiel-Koffer. Sie ist eine Wasserratte, obwohl sie immer noch nicht schwimmen kann. Deswegen haben wir uns nun entschieden, Lena zusätzlich zum Schwimmunterricht in der Schule, noch mit privatem Schwimmkurs zu unterstützen, weil sie einerseits das Wasser/Baden liebt und wir es andererseits als wichtig empfinden, dass auch sie schwimmen kann, zum Schutz vor einem Badeunfall.
Der Slogan vom Welt Down-Syndrom Tag lautet «Wir entscheiden mit». Wie wird Lena bei Entscheidungen einbezogen?
Lena darf bei Menu-Wünschen oder der Kleiderauswahl oder auch bei einem kleinen Ausflug mitentscheiden. Auch wenn sie zum Beispiel etwas nicht machen möchte - wie etwa sich fertigmachen zum Schlafen - lassen wir Lena entscheiden, ob sie alleine ins Zimmer gehen möchte oder zusammen mit Papi oder Mami. So bringen wir Lena dazu, unser Ziel zu erreichen, aber sie kann selbst entscheiden, wie sie das macht.
Nun zu euch, als Eltern. Wie habt ihr auf die Diagnose Down Syndrom reagiert?
Zuerst möchten wir erwähnen, dass wir eine problemlose Schwangerschaft und eine wunderbare Geburt hatten. Nach der Geburt sagte ich zur Hebamme: «Wie haben wir das verdient, dass wir eine so komplikationslose Schwangerschaft, schöne Geburt und ein gesundes Kind haben». Dann am nächsten Morgen kam alles anders als geplant: Ich als Mami wurde im Spital, mit dem Verdacht auf einen Herzfehler und starken Symptomen für eine Trisomie 21 bei Lena, konfrontiert.
Das hat vor allem mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Die Welt stand für mich still und ich war absolut überfordert.
Ich musste in diesem Moment allein entscheiden in welches Kinderspital Lena verlegt werden soll und habe mich für das Kinderspital in Bern entschieden. Wir haben in Freiburg im Daler-Spital geboren und hatten die Wahl zwischen dem Kinderspital in Freiburg oder in Bern. Aufgrund der Sprache wollte ich nach Bern und vor allem auch weg von «diesem Ort», welcher unser Leben völlig umgeworfen hatte. Obschon niemand eine «Schuld» trägt, waren in diesem Moment alle Leute vor Ort «verantwortlich» für «unser Schicksal».
Als Simon dann endlich wieder zu uns kam und vorab von den Ärzten informiert wurde, kam er zu mir ins Zimmer, nahm mich in den Arm und sagte «Schatz, es wird alles gut». Wenn ich daran zurückdenke, kommen mir heute noch fast die Tränen. Weil ich in diesem Moment nicht daran glauben konnte, dass alles gut wird. Ich bin so froh und dankbar, dass mein Mann so reagierte und seither eine wichtige Stütze für uns ist.
Wir verbrachten dann mehrere Wochen im Kinderspital Bern, aufgrund von diversen Themen, wie etwa eine Magensonde. Lena konnte aufgrund eines Herzfehlers, nicht genügend Milch aus eigener Kraft trinken, so dass sie unter das Geburtsgewicht gefallen ist und deshalb eine Magensonde bekam. Ein paar Wochen später mussten wir wieder ins Spital, aufgrund eines bakteriellen Infekts und der notwendigen Abgabe von Antibiotika über mehrere Wochen, weil die Herzoperation bevorstand und dieses auf keinen Fall von Bakterien befallen werden durfte. Schliesslich kam es zu der Herz-Operation. Lena hatte den für Downsyndrom-Kinder typischen Herzfehler; Atrioventrikulärer Septumdefekt (AVSD).
Wie hat sich euer Leben seither verändert?
Lena ist ein sehr aufgestelltes, bescheidenes junges und gesundes Mädchen. Wir, aber vor allem ich, mussten lernen, dass nicht alles immer nach Plan verläuft und man viel Geduld und Zeit haben muss. Lena braucht für alle Tätigkeiten und das Erlernen von Sachen, viel länger und mehrere Wiederholungen. Dies ist im Alltag nicht immer machbar und bringt einem zum Teil ziemlich an die Grenzen. Zum Beispiel, wenn wir unter Zeitdruck einen Termin einhalten müssen und Lena sich nicht anziehen und mitkommen will. Als sie noch kleiner war, haben wir sie einfach von A nach B getragen, aber jetzt mit neun Jahren und einem Gewicht von über 30 Kilogramm, geht das nicht mehr. Somit müssen wir sie verbal dazu bringen, die gewünschte Handlung umzusetzen. Das braucht Geduld und Ideen.
Ausserdem haben wir durch Lena und die damit verbundenen Spitalaufenthalte und neuen Kontaktkreisen (Facebook Downsyndrom Schweiz Gruppe oder Besuchen von Referaten durch Insieme21 oder Procap) Menschen kennengelernt, zu welchen wir den Kontakt sehr schätzen. Zum Teil sind dadurch auch neue Freundschaften entstanden.
Wie organisiert ihr den doch intensiven Alltag?
Durch den Besuch der Sonderschule, ist Lena unter der Woche tagsüber während 8.5 Stunden betreut und wird da abgeholt und gefördert, wo sie steht. Abends und an den Wochenenden machen wir meistens keine grossen Sprünge und geniessen die gemeinsame Zeit mit den Kindern im und um unser schönes Zuhause. Lena ist nicht anspruchsvoll, was Ausflüge in einen Zoo oder in einen grossen Wasserpark betrifft. Im Gegenteil, man macht Lena und auch uns damit keinen Gefallen. In grossen Menschenansammlungen kommt es schnell zu einer Reizüberflutung. Sie will in solchen Situationen immer, rasch wieder nach Hause.
Wie gestaltet sich das Zusammenleben mit ihrem Bruder?
Das Gleichgewicht zwischen Lena und ihrem kleineren Bruder zu finden und beiden gerecht zu werden, ist häufig eine Herausforderung.
Beispiele dafür sind folgende: Da Luca einfach drauflos plaudern kann und Lena für alles, was sie mitteilen möchte, mehr Zeit braucht und die Sätze zuerst «püschelen muss», kann sie auch schon einmal wütend und traurig werden. Luca versteht in solchen Momenten dann nicht, dass er warten und seiner Schwester Zeit geben muss, um etwas für ihn so Einfaches, machen zu können.
Es ist also nicht immer einfach?
Genau, Luca hat natürlich auch andere Interessen. Letzten Herbst gingen wir in ein Maislabyrinth, weil sich Luca das gewünscht hat. Wir haben uns schon gedacht, dass Lena daran keinen Spass haben wird, aber versuchten es trotzdem und gingen mit beiden Kids los. Obschon wir Lena mit dem Bollerwagen durch das Feld gezogen haben, hat sie nur geweint und auch wieder den Wunsch geäussert nach Hause zu gehen. Da haben wir uns kurzerhand aufgeteilt: Papi ist mit Luca weiter durchs Labyrinth gezogen und ich ging zurück auf den Startplatz, wo es einen Sandkasten hatte und Lena viel entspannter und ganz zufrieden spielen konnte.
Was wünscht ihr euch von der Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Menschen mit Down-Syndrom?
Was uns freuen würde ist, wenn Kinder mit besonderen Bedürfnissen mehr Platz in Vereinen wie zum Beispiel Sportclubs, Pfadis, Tanzgruppen, Musikgruppen und so weiter hätten. Es braucht eigentlich kein spezielles Wissen oder Ausbildungen, um sich um solche Kinder zu kümmern. Sie möchten einfach auch dabei sein und müssten vielleicht mehr im Auge behalten werden, wegen dem Weglaufen. Dieses Zusammensein im ausserschulischen Rahmen zwischen «Special Needs Kids» und nicht beeinträchtigen Kinder würde auch die Berührungsängste reduzieren und es wäre für alle normal, dass es leicht andere Menschen gibt und diese so in der Mitte der Gesellschaft dazu gehören.
Gerne sind wir offen für Gespräche mit und über Lena. Wir haben bis jetzt noch keine grossen negativen Erlebnisse gehabt. Was wir durch Lena und unsere etwas besondere Situation gelernt haben, ist dass wir unseren Alltag und unsere Aktivitäten so gestalten, dass sie für Lena und vor allem für uns als Familie möglichst gut und harmonisch funktionieren, egal was aussenstehende Personen uns raten oder «besser zu wissen meinen». Wir haben eine liebe Familie und einen tollen Freundeskreis, in denen die meisten, uns, Lena und unser Sein so nehmen wie es ist.
Anlaufstellen/Beratungsstellen
Insieme 21 - Interessenvertreter von Menschen mit Trisomie 21
Procap - Für Menschen mit Handicap, ohne Wenn und Aber
Pro Infirmis - Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen