uR Kids: Das Geheimnis der verschwundenen Wunscherfüllungskraft - Kapitel 1
Das Flüstern des alten Baumes

Das Flüstern des alten Baumes
Es war einmal ein uralter Baum, der allein auf dem Lindenhof neben dem Schloss von Murten stand. Mit seinen weiten Ästen spendete er den Menschen im Sommer kühlenden Schatten und schützte sie im Winter vor dem eisigen Wind.
Der Stamm des Baumes war so dick, dass darauf locker 100 Kinder Platz gehabt hätten, hätte man ihn flach abgesägt. Der Baum war so hoch, dass er sogar den Schlossturm überragte und fast den Himmel berührte.
Die grünen Blätter des Baumes sahen aus wie grosse Herzen und leuchteten selbst im Winter.
«Mama, warum hat dieser Baum im Winter noch Blätter? Und warum leuchten sie so?» fragte einmal ein kleines Mädchen beim Vorbeigehen neugierig.
Seine Mutter lächelte. «Das liegt an seiner magischen Kraft», erklärte sie leise.
Der Baum konnte nämlich, so erzählte man sich, Wünsche erfüllen. Aber nicht irgendwelche Wünsche – nur solche, die von Herzen kamen und anderen halfen. Und sie mussten geheim bleiben. Wünsche nach Spielzeug oder Süssigkeiten erfüllte der Baum nicht.
Einmal wünschte sich ein Junge, dass seine kranke Schwester wieder gesund wird – und der Baum schenkte ihr neue Kraft. Ein anderes Mal bat eine Frau darum, dass ihr einsamer Nachbar wieder lächeln kann. Bald darauf hatte der alte Mann viele Freunde und strahlte vor Freude.
Auch in diesem Winter warteten die Menschen in Murten wieder voller Vorfreude darauf, dem Baum ihre geheimen Wünsche anzuvertrauen.
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Es war der erste Dezembertag. Die Dächer der Häuser im Stedtli Murten lagen unter einer weissen Schneedecke, und der Murtensee glitzerte wie ein Meer aus Millionen Diamanten. Wie jedes Jahr bereiteten sich die Menschen auf das Weihnachtsfest vor, während der Duft von frisch gebackenen Keksen durch die Gassen zog.
Auch Joel, ein schüchterner Junge mit grossen braunen Augen, freute sich auf die Adventszeit. Jedes Jahr kam er mit seiner Familie früh am Morgen, noch vor dem Frühstück, zum grossen alten Baum auf dem Lindenhof, um dort seine Wünsche anzubringen.
Die Kinder in Murten hatten in der ersten Adventswoche keine Schule. Stattdessen zogen Familien, Grosseltern, Tanten, Onkel und Geschwister gemeinsam zum Baum, um ihre sorgfältig gefalteten Wunschzettel an die weit ausladenden Äste zu hängen.
«Hoffentlich wird der Baum auch jetzt viele Wünsche erfüllen», sagte Joel zu seinen Eltern, als sie sich mit ihren Laternen auf den Weg machten. Doch als sie den Lindenhof erreichten, stutzte Joel.
Schon von weitem sah er, dass dieses Jahr etwas anders war. Der alte Baum, der sonst festlich glitzerte und mit seinen grossen Herzblättern den Platz verschönerte, stand still und reglos da. Seine grünen Blätter waren verschwunden, und die Äste hingen dürr und kahl herunter.
«Was ist mit dir passiert?» murmelte Joel erschrocken, während er den Baum anschaute. So hatte er ihn noch nie gesehen.
Am Baum warfen ein paar kleine Jungs bunte Papierflieger in die kahlen Zweige, um den Baum zu schmücken. Einer der Jungen warf gerade einen grünen Flieger, der aber in seiner eigenen Mütze landete. Verdutzt fasste er sich an den Kopf, schüttelte die Mütze und liess den Flieger herunterfallen.
«Super…», sagte der Junge lachend, und die anderen Kinder kicherten.
Auch Joel konnte sich trotz allem ein Lächeln nicht verkneifen. Dann half er seiner kleinen Schwester Meli dabei, ihren Wunsch an den Baum zu hängen.
Meli hatte, wie viele andere Mädchen, ihren Wunsch auf die Flosse einer bunten Papiermeerjungfrau geschrieben und die Flosse vorsichtig gefaltet.
Meli war erst fünf Jahre alt und als grosser Bruder wollte Joel, dass ihr Wunsch wahr wurde. Natürlich wusste er nicht, was Meli sich wünschte – es waren ja geheime Wünsche.
Gerade als er Melis Meerjungfrau an einen der Äste band, hörte er ein leises, klagendes Flüstern, das mit dem Wind durch die Äste zog:
«Helft mir!»
Joel starrte in die leeren Zweige. Zögerlich trat er näher an den Stamm des alten Baumes.
Da! Wieder: «Helft mir!»
«Wer ‘dedet ra’… äh, wer redet da?» flüsterte Joel nervös, während er sich umblickte.
Wenn er aufgeregt war, vertauschte Joel oft die Buchstaben beim Sprechen – etwas, weswegen ihn die anderen Kinder manchmal auslachten.
Da sah er, wie sich die Rinde des Baumes genau vor ihm einen kleinen Spalt öffnete, als würde der Baum sprechen.
«Ich… ich rede…», flüsterte der Baum schwach.
Joel traute seinen Ohren kaum. Der Baum sprach! Joels Herz klopfte so laut, dass er es selbst hören konnte. Einen Moment lang war er versucht, einfach wegzulaufen – doch irgendetwas hielt ihn zurück.
«Meine Kraft, Wünsche wahrzumachen, ist verschwunden!», flüsterte der Baum mit letzter Kraft. «Ich brauche Hilfe!»
Joel erschauderte. Er strich sich mit der Hand durch sein wuscheliges, braunes Haar, das sich widerspenstig in alle Richtungen sträubte. Genauso chaotisch war es in seinem Kopf. Seine Gedanken purzelten wild durcheinander:
Was, wenn niemand kam, um dem Baum zu helfen? Und was würde passieren, wenn seine Zauberkraft für immer verloren war? Was, wenn alle Wünsche, die der Baum jemals erfüllt hatte, plötzlich wieder verschwanden?
Noch einmal öffnete sich die Rinde des Baumes vor Joel, diesmal noch weiter. Joel hielt die Luft an…
Morgen: Der blaue Schmetterling