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Vermischtes /Kolumne
Karin Ledermann

Mein Lieblingsbuch 2020

Ich bin keine Vielleserin mehr. Nicht, weil ich nicht gerne lese, sondern weil ich noch lieber schreibe. Gleichwohl finde ich jedes Jahr mein Lieblingsbuch, das ich dann gleich ein halbes Dutzend Mal kaufe, um es verschenken zu können.

Im letzten Jahr fand ich es erst spät, mein Lieblingsbuch, und im Moment lese ich es meinem Mann laut vor. Es gibt Bücher, die sind sprachlich so wunderschön, dass man sie laut lesen muss! "Offene See" von Benjamin Myers erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, Robert, der sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine besondere Reise macht. Robert weiss, dass er, wie alle Männer seiner Familie seit Generationen, Bergarbeiter werden wird, zuvor aber will er das Meer sehen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, eine Frau wie Robert sie nie zuvor getroffen hatte. Alleinlebend, selbstbewusst, resolut, unkonventionell. Aus der Einladung auf eine Tasse Tee ergibt sich jedoch ein viel längerer Aufenthalt. In den Gesprächen mit der Frau lernt Robert eine ihm bis anhin fremde Welt kennen. Als er schliesslich auf ein Manuskript mit Gedichten stösst, verdichtet sich die Geschichte, Robert entdeckt ungeahnte Fähigkeiten in sich, er reift und Ende des Sommers ist aus dem Kind ein junger Mann geworden.

Es ist eine einfache, unaufgeregte Geschichte. Wer Action, heisse Liebesszenen oder Thriller liebt, wird enttäuscht sein. Aber Myers ist ein fabelhafter Erzähler, er malt mit seinen Worten Szenen, die ich miterlebe, die mich in ihren Bann ziehen. Ich rieche den Hummer, das sommerwarme Gras, höre das Summen der Bienen, das Rauschen des Wassers, fühle die Sehnsucht des Jungen. Es ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt, das träumen lässt, eine wundervolle, zeitlose Geschichte um eine ganz besondere Freundschaft und das Erwachsenwerden.
 
 
Offene See, von Benjamin Myers, ISBN 978-3-8321-8119-2, Dumont Verlag, erhältlich in der Altstadt Buchhandlung Murten (auf Bestellung).