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Eine Weihnachtsgeschichte

von Brigitte Kaufmann
am

Eine Woche vor Weihnachten blies eine eisige Bise. Der Wind fegte den Schnee zu meterhohen Hügeln zusammen. Er überzuckerte das ganze Haus mit der weissen Pracht, sogar die Fenster waren wie in Puderzucker gehüllt. In der Küche knisterte das Feuer und es breitete sich eine wohlige Wärme aus. Der Duft von Anis, Zimt, Koriander und Vanille lag in der Luft und zauberte Weihnachtsgefühle in alle Räume. Meine Mutter und die Grossmutter rührten, kneteten und formten Teige, dass ihre Wangen vor Eifer wie rote Äpfelchen glühten. Guetzlischachteln stapelten sich in der Küche, als müsste eine ganze Armee mit der süssen Überraschung versorgt werden. Diese Zeit liebte ich. Ich durfte mithelfen und sogar von den misslungenen Guezli essen, soviel ich wollte.

Ein Poltern ertönte vom Gang her, Schuhe wurden aneinander geklopft und drei Schneemänner erschienen in der Küche. Mein Vater, unser Knecht und mein Bruder hatten die Strasse gepflügt und sahen nun dementsprechend aus. Nach einiger Zeit waren sie dann aufgetaut und dampften mit dem heissen Tee um die Wette. Meine Mutter meinte nun, es sei Zeit für die Probe. Jedes Jahr spielten mein Bruder und ich am Weihnachtstag die Szene aus der Bibel, als der Engel dem Hirten erschien und sich dieser mit seinen Eseln, Schafen und Hunden aufmachte, das Jesuskind zu suchen.

Da ich von Natur aus blonde Haare hatte und eher friedliebend war, lag es auf der Hand, dass ich die Rolle des Engels übernahm. Mein Bruder, der etwas dunkler, kräftiger und cholerischer geraten war, spielte den Hirten. Zuerst ging ja alles gut. Ich schlüpfte in ein weisses Nachthemd, zwei helle Kartonflügel wurden am Rücken befestigt und zuletzt kam noch ein Heiligenschein aus Goldfolie auf meinen Kopf. Mein Bruder stieg in ein paar alte, verschlissene Hosen, zog ein Hemd vom Vater an und setzte sich einen Schlapphut auf. Er begab sich zu seinen unsichtbaren Hirtenkollegen, Schafen, Eseln und Hunden. Ich hatte nun aus der himmlischen Gemeinschaft herabzusteigen. Mir war heiss vor Eifer und ich rief dem Hirten voller Inbrunst zu: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden. Folget dem Stern und ihr werdet in einem Stall ein Kind in einer Krippe finden. Es ist Jesus Christus." Doch statt vor Ehrfurcht zu erstarren, ging meinem Bruder dieses heilige Getue von seiner Schwester so auf die Nerven, dass er statt den Worten: "Kommt schnell, wir wollen den Stall suchen und das Kind sehen, von dem der Engel erzählt hat", ungehalten etwas von einem dummen Engel, dem er sicher nicht gehorche, in den Bart brummte. Dies brachte den sanftmütigen Himmelsboten so in Rage, dass er fuchsteufelswild hinabfuhr und mit dem Hirten einen verbalen Schlagabtausch lieferte. Ja, es wäre zwischen den beiden eine wilde Keilerei entstanden, hätte die Mutter nicht energisch eingegriffen und die Probe beendet. In ihrer mütterlichen Weisheit verstand sie nur zu gut, dass die heilige Zeit manche Menschen zu unverständlich sensiblen Handlungen treiben konnte. Als die Gemüter abgekühlt waren, fürchtete der um seine Aufgabe betrogene und in der Ehre verletzte Engel um Weihnachten, und der unbeherrschte Hirte schämte sich ein bisschen, weil er nicht auf die Probesuche des Christkindes gegangen war.

Am Weihnachtstag trat dann der Himmelsbote etwas weniger heilig in Aktion und der Hirte bekundete die nötige Ehrfurcht. Er folgte mit seiner Schar dem Stern und fand das Jesuskind in der Krippe. Wir sangen aus voller Kehle vom blätterbehangenen Tannenbaum, vom Schnee der rieselt und von der stillen Nacht. Und jetzt war wirklich Weihnachten. Friedenszeit.