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Politik /Kommentar
Joel Rathgeb

Wo ist die freie Meinungsbildung in Zeiten des Coronavirus?

Es ist momentan das Thema Nummer eins: das Coronavirus und die Massnahmen zur Eindämmung des Virus. Sobald ich das Haus verlasse, bemerke ich die fragenden Blicke der Passanten und sogar der vorbeifahrenden Autofahrer: «Was hat er so Wichtiges zu tun, dass er unterwegs sein darf?» Auf Facebook, Instagram und 20Minuten liest man ständig Kommentare wie: «Leute, übernehmt doch endlich Verantwortung und bleibt zuhause!» Auch aus meinem persönlichen Umfeld höre ich immer wieder solche Bemerkungen.
 
Ein Teil unserer Gesellschaft fordert offensichtlich bedingungslose Solidarität über die rechtlichen Massnahmen hinaus. Dieser Teil erwartet, dass man nicht mehr joggen und velofahren geht und seine Freunde und Bekannten nicht mehr sieht. Auch nicht in kleinen Gruppen und mit dem nötigen Abstand. Das hochheilige Argument dazu, das übrigens nicht im Geringsten angezweifelt werden darf, ist, dass sonst Menschen sterben, die nicht sterben müssten.
 
Nun wage ich, genau dieses Argument in Frage zu stellen. Wenn ich mich richtig erinnere, leben wir in einer Demokratie. Einer der demokratischen Grundsätze ist die freie Meinungsäusserung und Meinungsbildung. Ist nicht genau dieser Grundsatz verletzt, wenn wir nicht tolerieren, dass jeder so viel zum Kampf gegen das Virus beiträgt, wie er möchte, solange er sich an die Gesetze hält? Der oben erwähnte Teil der Gesellschaft toleriert es eben nicht, wenn wir für erlaubte Aktivitäten noch rausgehen.
 
Grosse Parallelen sehe ich im Kampf gegen den Klimawandel und die Armut. Da braucht es ebenfalls Solidarität. Doch wir erwarten nicht, dass jeder solidarisch ist und mitmacht. Denn jeder hat ja das Recht, sich seine eigene Meinung zu bilden und diese auszuleben. Und das finde ich auch gut so. Aber: Auch durch den Klimawandel und die Armut sterben täglich Menschen, die nicht sterben müssten!
 
Doch bei diesen Themen ist es okay, dass jeder seine eigene Meinung dazu hat. Ich frage mich, wieso dies bei den Massnahmen zum Coronavirus nicht der Fall ist. Nach längerem Nachdenken kommt mir ein einziger Grund dafür in den Sinn: Weil durch das Coronavirus plötzlich das eigene Umfeld in Gefahr ist. Also soll jetzt jeder dazu beitragen, dass das eigene Umfeld gesund bleibt. Die Bedrohungen des Klimawandels oder der Armut sind hingegen viel weniger greifbar und bedrohend für uns.
 
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin nicht gegen die Massnahmen des Bundes. Ich erwarte auch nicht, dass jeder für die Armut spendet, kein Fleisch mehr isst und nicht mehr ins Flugzeug steigt, denn ich bin ein Freund der freien Meinungsbildung. Doch ich erwarte, dass diese Freiheit in der Meinungsbildung auch in Zeiten des Coronavirus respektiert wird. Dazu gehört, nicht mit dem Finger auf Leute zu zeigen, die das Haus verlassen.