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Zimmerwald – eine Entdeckungsreise zu einem verdrängten Stück Dorf- und Weltgeschichte

An der Filmmatinee im Le cinéma Feuerwehrlokal No 1 in Murten schloss sich für Valeria Stucki in einem gewissen Sinn ein biografischer Kreis: Als sie selbst so alt war wie die Protagonist:innen in ihrem ersten Langfilm, besuchte sie in Murten die Sekundarschule. Die eigenen Geschichts-Stunden von damals habe sie allerdings nicht in so guter Erinnerung.

von Alexander Schroeter
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Zimmerwald in der Nähe von Bern wird zu einem Brennpunkt im 1. Weltkrieg. (Trailer-Still: 0:19)

An der Filmmatinee im Le cinéma Feuerwehrlokal No 1 in Murten schloss sich für Valeria Stucki in einem gewissen Sinn ein biografischer Kreis: Als sie selbst so alt war wie die Protagonist:innen in ihrem ersten Langfilm, besuchte sie in Murten die Sekundarschule. Die eigenen Geschichts-Stunden von damals habe sie allerdings nicht in so guter Erinnerung.

Das Kino Murten war am Sonntagvormittag ausgebucht. Der brandneue Film ‘Zimmerwald’ von 2023 und der anschliessenden Film-Talk, den Ueli Heiniger mit der Filmemacherin Valeria Stucki führte, stiessen auf grosses Interesse.

‘Zimmerwald’ lockte viele Zuschauer:innen an. Heimspiel für Valeria Stucki. (Bild: asr)

Schlägt man einen historischen Atlas auf den Seiten über den 1. Weltkrieg auf, ist in der Schweiz nur eine Ortschaft vermerkt: Zimmerwald. Ort des ersten geheimen internationalen Treffens der Sozialist:innen. Das Ziel der Konferenz von 1915 war gleichzeitig ambitiös und simpel: Den Horror des 1. Weltkrieges so schnell wie möglich zu beenden.

Wie ein Film entsteht
Dies die historischen Fakten. Aber: lässt sich daraus ein Film machen? Und wer hatte die Idee dazu? – Die kürzeste Antwort auf die zweite Frage beantwortete Valeria Stucki mit einem überzeugten «Ich». – Um die Thematik cineastisch interessant zu gestalten, suchte die Filmemacherin die Zusammenarbeit mit einer Lehrerin jener Schule, in der die Jugendlichen von Zimmerwald die Sekundarschule besuchen.

Treibende Frage war: Weshalb ist den Bewohner:innen Zimmerwalds nicht bewusst, dass sie an einem weltgeschichtlich so bedeutenden Ort wohnen? Oder wollen sie sich nicht erinnern? Wie ein Leitmotiv zieht sich ein Zitat durch den ganzen Film: «Ein Dorf hat keine Geschichte.» Weil in einem Dorf ein Alltagsleben seinen Lauf nimmt – immer gleich, unabhängig von allem, was ‘draussen’ läuft.

Um diese Behauptung aus der Zeit des 50-Jahr-Jubiläums von Zimmerwald dreht sich vieles in diesem Dokumentarfilm der besonderen Art. Herausgekommen ist nicht ein Dok-Film über die Ereignisse von 1915, sondern ein Film, wie junge Menschen sich auf Spurensuche begeben und ein grosses Puzzle zusammenzusetzen versuchen.

Valeria Stucki kennt Zimmerwald gut: Sie hat nicht nur dort gedreht, sondern auch vier Monate gelebt. (Bild: asr)

Zuerst eintauchen, dann drehen
Für die Umsetzung ging Valeria Stucki überaus sorgfältig vor. Sie reiste nicht mit einer grossen Filmcrew nach Zimmerwald, sondern mit ihrer Familie – und dies gleich für vier Monate – und einem minimalen Equipment. Sie wollte zuerst mit den Menschen vor Ort, die dann zu den Protagonist:innen ihres Filmes wurden, eine Weile den Alltag teilen.

Gedreht wurde dann, indem Szenen mehrere Male nachgespielt wurden. So etwa die Gemeinderatssitzung: Da standen nicht mehrere Kameras im Raum, sondern mit einer Kamera wurde jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln die mehrfach nachgespielte Szene erfasst. «Den Rest regelt der Schnitt», meinte Valeria Stucki schmunzelnd.

Durch diese Technik, so Stucki, wird klar: Ein Film ist ein Konstrukt, aber die Geschichte oder die Interpretation der Geschichte ebenfalls: Meinungen werden gebildet, vererbt, angenommen oder bewusst abgelehnt – was wirklich geschah, ist dabei nur der Ausgangspunkt.

Ort des Geschehens: Die ehemalige Pension in Zimmerwald. (Trailer-Still: 1:09)

Und was wirklich geschah, darüber berichtet Stuckis Film eher fragmentarisch. Sicher ist, dass Robert Grimm, der Schweizer Sozialist, Zimmerwald kannte. Und für einen geheimen Kongress gab es wohl nichts Besseres als eine etwas abgelegene Ortschaft mit einer von der Grösse her passenden Pension. Und so tagten hier rund vierzig Sozialist*innen vom 5. bis 8. September 1915 in der Pension Beau Séjour.

Hat Zimmerwald durch diesen Fakt nun eine Geschichte oder keine Geschichte? – Über lange Zeit, und besonders in der Zeit des Kalten Krieges, war die Meinung der Mehrheit wohl folgende: Lieber keine Geschichte als diese Geschichte. Es gelingt nun aber Valeria Stucki, vor diesem Hintergrund einen ‘unideologischen Film’ zu realisieren, in dem die heutigen Bewohner*innen von Zimmerwald keineswegs als rückständige Hinterwäldler dargestellt werden.

Einige Gäste der ‘Internationalen’ nächtigten im noch bestehenden ‘Schloss’. (Trailer-Still: 1:58)

Geschichte als fil rouge
Umgang mit Geschichte, wer behält was zurück, wem ist was wichtig: Um solche Fragen dreht sich auch das neue Projekt der Filmemacherin, wie sie abschliessend verrät. Darin begleitet sie das Projekt des Langnauer Regionalmuseums Chüechlihus. Dieses will sein Depot ‘entsammeln’. Unter Einbezug der Bevölkerung wird verhandelt, was sich zu bewahren lohnt. – Wie ‘Zimmerwald’ zeigt, wird es Valeria Stucki sicher gelingen, auch darüber eine packende Geschichte zu erzählen.

Alexander Schroeter, Regionaut

Filmemacherin aus dem Murtenbiet: Valeria Stucki mit Talk-Master Ueli Heiniger. (Bild: asr)