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Kultur /Weihnachtszeit
René Merz

Weihnachtsgeschichte am Sonntag

Am späten Nachmittag des 23. Dezembers 1990 im Slowakischen Poprad (deutsch: Deutschendorf). Ein Mann steht mit 3 Rosen in der linken Hand am Bahnhof. Leise tönt wunderbare Musik unter seinem dunkelbraunen Filzmantel aus einem Transistorradio hervor. Es war die bekannte Folklore "A od Prešova".

Er wartete seit einer halben Stunde auf seine Frau Bibiana, die mit der Bahn vom Westukrainischen Lwiw (deutsch: Lemberg) via Prešov anreist. Der Zug sollte um 16:00 Uhr ankommen, er hatte aber wieder mal Verspätung! Sie besuchte ihre 3-jährige Nichte Nadeschda in Lemberg. Sein Sohn, Vater von Nadeschda, war mit einer Weißrussin aus Gomel verheiratet, lebte aber heute in Lemberg. Er hätte auch gerne mitreisen wollen, aber das Geld reichte nicht für 2 Fahrkarten. Es war sehr kalt an diesem Sonntag, im Radio meldete der Wetterdienst -18°C Nachttemperatur für Starý Smokovec!

Hier in Poprad waren es vielleicht -12°C. Er fror an den Füssen, trotz dicken Lederstiefeln. Pah, was waren aber schon 12°C unter Null, er war es ja gewohnt. Der Rekord betrug -27,6°C für Poprad! 30 Jahre lang war er morgens schon um 5:30 Uhr früh mit dem ersten Bus von Žilina (deutsch: Sillein) nach Martin zur Arbeit gefahren, zur ersten Schicht ins Panzerwerk (heute ZTS TEES).

Sinnend schaute er den Gleisen entlang Richtung Osten, wenn nur bald der Zug käme. Er schaute auch nach Nordwesten, wo man schon die Lichter von Starý Smokovec (deutsch: Altschmecks) unter den verzuckerten und leicht rötlich aufglühenden Berggipfeln der Hohen Tatra sah.

(Foto: © 2018 by René Merz/Murten)

Es war jetzt schon 17:00 Uhr! Ganz, ganz leise trägt jetzt der auffrischende Nordwestwind den Schall des Glockengeläutes der Kirchen von Starý Smokovec herüber! Morgen Montag war Heilig Abend, dann würden sie zusammen entlang der verschneiten Tannen von Starý Smokovec nach Tatranská Lomnica spazieren. Aber nur bei schönem Wetter würden sie diesen Weg laufen, sonst würden sie die Tatranská elektrická nehmen, um dann das angesagte Klavierkonzert von Chopin zu besuchen.

Es wurde durch das Hotel Odborar aus Tatranská Lomnica organisiert, der zuständige Mann sprach sogar fliessend Deutsch! Die Touristen aus Berlin und Bern waren sehr zufrieden mit dem Kulturangebot aus diesem Hotel, denn es hatte sich schnell herumgesprochen. Es gab auch Ausflüge nach Levoca (deutsch: Leutschau), oder nach Kežmarok (deutsch: Kesmark/Käsmark).

Wieder nahm er einen Schluck Borovicka aus seiner kleinen Flasche, wenn nur nicht diese Kälte wäre. Aber der kräftige 2. Schluck Zipser Wacholderschnaps wärmte jetzt endlich.

Plötzlich klang mit monotoner Stimme eine Durchsage aus den Lautsprechern des Bahnhofes: "Noch 2 Minuten bis zur Einfahrt des Zuges aus Prešov". Er packte die Rosen noch fester in seine Hand. Endlich hielt der Zug. Mit strahlendem Lächeln stieg Bibiana aus! Er eilte ihr entgegen, um sie liebevoll in seine Arme zu nehmen. 

Jetzt wurde ihm richtig warm!

(Foto: © 2018 by René Merz/Murten)