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Kultur /Weihnachtszeit
Brigitte Kaufmann

Weihnachtsgeschichte am Freitag

Der kleine Engel Samuel räkelte sich in seinem himmlischen Bett. Er rieb sich seine verschlafenen Augen und gähnte gar nicht engelhaft. Samuel freute sich auf den heutigen Tag. Es versprach ein richtiger Engelstag zu werden. Auf der Erde warteten viele erwartungsvolle und ungeduldige Menschen auf die Geschenke vom Christkind. Samuel war einer von vielen Weihnachtsengeln, welche die Geschenke verteilen durften. Doch dies war nicht selbstverständlich, denn Samuel war der langsamste Engel im ganzen Himmel. Er war nicht langsam aus Faulheit, sondern weil es immer so viel zu sehen gab. Er vergass manchmal ganz einfach die Zeit. Viele Himmelswesen verziehen dem kleinen Engel Samuel seine Langsamkeit, weil er so liebenswürdig und fröhlich war. Und nun durfte er auf die Erde zu den Menschen, obwohl er nicht der Schnellste war.

Der kleine Engel schwebte gemächlich aus seinem Himmelbett, als er schon die laute Stimme des Oberengels John hörte: „Alle Geschenkengel antreten zur morgendlichen Verteilzeremonie. In zehn Minuten an der Himmelspforte beim grossen Parkplatz. Oberengel John hiess eigentlich Johannes. Doch zu seiner Erdenzeit lebte er lange in Amerika. Später im Himmel wehrte er sich standhaft dagegen, Johannes zu heissen und nach einem undurchsichtigen Handel mit Petrus, erlaubte ihm dieser entnervt, sich John zu nennen. Manche Himmelswesen munkelten, Petrus dürfe seitdem jeden Monat einmal auf Oberengel Johns feuerrotem Himmelsmotorrad eine Spritztour unternehmen. Auch dieses Gefährt hatte es irgendwie durch Engel Johns Schlauheit in die himmlische Garage geschafft. Wie ein Feldweibel stand nun Oberengel John auf einer Wolke beim Himmelsparkplatz und erteilte Befehle. Unzählige Schlitten, voll beladen mit farbigen Paketen, standen bereit. Im Sekundentakt stoben die Engel mit ihren Schlitten durch die Himmelspforte der Erde zu.
Der kleine Engel Samuel traf mit fünf Minuten Verspätung auf dem Himmelsparkplatz ein. John schimpfte wie ein Rohrspatz: „Kannst du denn nicht ein einziges Mal in deiner Engelslaufbahn rechtzeitig am Ort sein? Jetzt nimm halt diesen alten Schlitten“, er zeigte auf ein vorhimmlisches Modell, das nur mit drei Geschenken beladen war. Oberengel John schüttelte den Kopf und stapfte Richtung Himmelskantine davon, um seinen himmlischen Morgenkaffee zu trinken.
Der kleine Engel Samuel schluckte die Tränen hinunter. Mit diesem Gefährt würde er an Ostern noch unterwegs sein. Wie konnte er jetzt die Menschen glücklich machen? Betrübt liess er den Kopf hängen.

Auf einmal huschte ein Lächeln über Engel Samuels Gesicht. Er, der langsamste Engel, würde der Schnellste sein. Ein paar Minuten später schob der kleine Engel Samuel das feuerrote Himmelsmotorrad von Oberengel John durch die Himmelspforte, band die  Geschenke vom Schlitten auf den Gepäckträger, startete durch und brauste zwischen zwei Schäfchenwolken hindurch auf die Erde zu. So schnell war der kleine, langsame Engel Samuel in seinem ganzen Engelsleben noch nie unterwegs gewesen. Seine seidigen Engelshaare stoben im Wind und seine Flügel flatterten wie wild. Er überholte die langsameren Engel auf ihren Schlitten. Schon erblickte er die Erde, zog eine letzte langgezogene Kurve und merkte, dass er nicht bremsen konnte. Den kleinen Engel Samuel durchfuhr ein Riesenschreck. Er liess den Lenker des himmlischen Motorrades los. Dieses machte sich selbständig. Die Pakete flogen in alle Himmelsrichtungen davon. Das Motorrad landete in einem Tümpel und der kleine, erschrockene Engel Samuel in einem weichen Heuhaufen. Samuel war wind und weh ums Herz. Er kraxelte aus dem Haufen Heu, streckte sich und war froh, dass seine Flügel nicht gebrochen waren. Das feuerrote, himmlische Motorrad war nun nicht mehr rot und noch weniger himmlisch. Und alle Pakete waren weg. Dicke Tränen rannen über die Engelswangen von Samuel. Er, der langsamste Engel, der wenigstens für einmal der Schnellste hätte sein wollen, brachte es nicht fertig, ein paar Menschen auf Erden glücklich zu machen.

Mit einem lauten Schluchzer schwebte er wieder dem Himmel zu, in Erwartung einer gerechten Strafe. Oberengel John standen die Haare zu Berge, als der kleine Engel Samuel scheu vor ihn trat und ihm das Missgeschick beichtete. Er schickte sofort ein paar himmlische Mechaniker los, um bei seinem Motorrad zu retten, was noch zu retten war. Er wollte schon wieder losschimpfen, als Petrus angerannt kam und sein Fernrohr schwenkte. „Mein lieber Engel Samuel, schau einmal zur Erde!“ Samuel sah durch das Fernrohr und erblickte zwei Jungen beim Fussball spielen. „Dein Paket wurde von einem Moslemjungen gefunden und weil darauf stand „vom Christkind“, hat er es einem Jungen im selben Dorf geschenkt, der Christ ist. Nun sind die Buben dicke Freunde und spielen mit dem Fussball der im Paket war, wann immer sie können. Petrus war ganz aus dem Häuschen: „Schau einmal hier“, Petrus schwenkte sein Fernglas ein paar Meter weiter. Der kleine Engel Samuel sah ein älteres Ehepaar und ein Mädchen, das mit einer Puppe spielte. „Das Paket mit der Puppe ist bei einem Ehepaar im Garten gelandet. Sie schenkten es dem kleinen Mädchen nebenan, das erst gerade eine schwere Operation hinter sich hatte. Nun betreuen die Beiden das Mädchen zwischendurch, damit die Eltern etwas zusammen unternehmen können!“ Petrus schwenkte das Fernglas zum dritten Mal. Der kleine Engel Samuel sah einen Mann mit einem Hund. „Das dritte Paket fiel einem Mann, dem vor einiger Zeit seine Frau gestorben ist, direkt vor die Füsse. Zuerst staunte er über die Hundeleine, die darin verpackt war. Dachte aber, dies sei wohl eine Fügung und kaufte sich einen Weggefährten.“ Petrus sah den kleinen Engel Samuel stolz an und schmunzelte, mit einem Seitenblick auf Oberengel John. „Mit deiner Engelsstrolchenfahrt hast du ein paar Menschen sehr glücklich gemacht. Vielleicht sollten wir in Zukunft die Pakete vom Christkind immer auf diese Weise verteilen, wenn daraus solch himmlische Begegnungen entstehen.